Interview Prof. Dr. Jörn Rüsen

Professor Dr. Jörn Rüsen ist Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen

 

Agenda-Forum:

Herr Professor Rüsen, der Begriff der Nachhaltigkeit stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft. Inzwischen gibt es eine regelrechte Inflation des Begriffes und es gibt kaum jemanden, der nicht von sich behauptet, in irgendeiner Art und Weise nachhaltig zu sein oder zu handeln. Ist Nachhaltigkeit eine Modeerscheinung oder ein Begriff mit Substanz?

Nachhaltigkeit ist der Begriff, mit dem man ausdrückt, nach welchem Gesichtspunkt wir leben und handeln müssen, um uns nicht die natürlichen Bedingungen unseres eigenen Überlebens zu zerstören. Dieser Begriff bezieht sich zunächst einmal auf ganz harte Fakten der Ökonomie, der Naturressourcen und der Art des Wirtschaftens. So werden zum Beispiel in der Wirtschaft die meisten Investitionen zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität verwendet, indem man mit immer weniger und immer billigerer Arbeit immer mehr Produkte erstellt. Nur ein Bruchteil solcher Investitionen geht demgegenüber in die so genannte Ressourcenproduktivität, das heißt, dass man mit immer weniger Ressourcen immer mehr machen kann. Eine Schwerpunktverlagerung von der Arbeitsproduktivität zu Ressourcenproduktivität hat noch nicht im notwendigen Umfang stattgefunden, obwohl wir längst wissen, dass wir die natürlichen Ressourcen, wie zum Beispiel die Energieträger, nicht verschleudern dürfen. Bei uns fahren immer noch Autos herum, die sehr viel Benzin verbrauchen, obwohl man mit einer modernen Technik diesen Verbrauch ganz erheblich reduzieren könnte.

Dieser engere Nachhaltigkeitsbegriff hat sich inzwischen zu einer Art Metapher und Floskel ausgeweitet. 'Nachhaltig' ist inzwischen, ironisch gesagt, alles das, was man gut und schön findet. Ein solcher inflationärer Wortgebrauch kann dann dazu führen, daß man sich beim Begriff Nachhaltigkeit immer weniger denkt.

Es gibt allerdings jetzt Erweiterungen des Nachhaltigkeitsbegriffs, die Sinn machen. Zum Beispiel die Übertragung des Nachhaltigkeitsbegriffs auf die Finanzpolitik. Das akkumulierte Schuldenmachen zur Erleichterung der Lebensverhältnisse der Gegenwart verstößt gegen ein Nachhaltigkeitsprinzip. Wir müssen eben auch die kommenden Generationen, die noch keinen politischen Einfluss haben, weil sie entweder noch nicht wählen dürfen wie die Unmündigen oder noch gar nicht geboren sind, systematisch in die finanzpolitischen Entscheidungen der Gegenwart einbeziehen. Wir alle wissen, dass das notwendig ist, damit unsere Kinder nicht unter einer Last von Schulden ersticken. Wir wissen aber auch, wie wenig wirksam dieses Prinzip gegenwärtig noch ist.

 

Heißt das denn dann in der Konsequenz, wir müssten, wenn wir zukunftsgerichtet denken, heute noch viel mehr sparen?

Sparen ist nur eine Möglichkeit, den Schuldenberg nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen. Für mich als Nicht-Ökonomen gibt es dafür ein interessantes Beispiel: Die Reagan-Regierung in den USA hat einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen, unter Clinton wurde dieses Defizit aber in wenigen Jahren abgetragen. Das geschah nicht vornehmlich durch Sparen, sondern durch eine investitionsfreundliche Wirtschaftspolitik. Auf jeden Fall aber kann man den Gesichtspunkt, was wir eigentlich der kommenden Generation hinterlassen, nicht mehr ignorieren. Er taucht freilich heutzutage überwiegend nur in Sonntagsreden auf und ist noch kein fester Bestandteil der harten Alltagspolitik. Das liegt vor allem daran, daß die Ungeborenen, in deren Namen ja wichtige Entscheidungen getroffen werden oder nicht getroffen werden, denjenigen, die entscheiden, keine Wählerstimmen geben können. Diese Nachhaltigkeit funktioniert also nur dann, wenn die meisten Menschen und eben nicht nur die Akteure auf der oberen Entscheidungsebene von diesem Prinzip überzeugt sind. Wir brauchen einen Gesinnungswandel bei den Eliten, der aber nicht eintreten wird, wenn es nicht auch einen entsprechenden Sinneswandel bei den Massen gibt.

 

 

Gibt es auch Nachhaltigkeit in der Kultur?

Ich möchte Ihre Frage polemisch beantworten: In der Abfallwirtschaft bedeutet das Prinzip der Nachhaltigkeit u.a., dass wir nicht an unserem Müll ersticken. Jeder von uns weiß nun, dass es auch kulturellen Müll gibt. Es werden große Müllberge in der Kultur erzeugt, von denen niemand weiß, wie man sie eigentlich entsorgen kann oder wie man es verhindern kann, dass sie weiter wachsen. Denn man sieht sie ja nicht und man bekommt von ihnen oft erst dann Kenntnis, wenn es zu spät ist. Ein solcher Müllberg besteht zum Beispiel darin, daß Jugendliche anfangen, andere Jugendliche zusammen zu schlagen und diesen Vorgang auf ihren Handys filmen und sich diese Filme untereinander zeigen und damit soziales Ansehen in ihrer Clique gewinnen. Wenn sich Migrantengruppen abschotten und eine Parallelgesellschaft bilden, dann hat das auch kulturelle Gründe, die unter anderem darin bestehen, dass die Mehrheitsgesellschaft sich nicht ernsthaft darum bemüht hat, die Anderen in ihrem Anderssein wahrzunehmen und sich zu überlegen: „Wie können wir sie davon überzeugen, dass es sich auch für sie lohnt, in unserer Gesellschaft nach gewissen kulturellen Grundnormen zu leben?“ Hier liegen Versäumnisse vor, übrigens sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von den Minderheiten. Um noch ein negatives Beispiel zu nennen: Wir haben Müllberge an falscher historischer Tradition, etwa in älteren nationalistischen Denkformen.

 

Es gibt aber auch kulturelle Nachhaltigkeit. So gibt es zum Beispiel 'nachhaltige' Texte. Wir nennen sie aber nicht nachhaltig, sondern 'klassisch'. Nachhaltigkeit zeichnet eine Kultur der Dauer, der Bewährung und der Zukunftsfähigkeit durch einen pflegenden und bewahrenden Umgang mit der eigenen Herkunft. Das ist gar nicht altväterlich-traditionalistisch gemeint. Nachhaltigkeit ist vielmehr eine Kultur, in der die jetzt lebenden Menschen ihre eigene Zukunftsperspektive immer daraufhin formulieren, wie sie anschlussfähig an die Vergangenheit ist. Das heißt eben nicht nur Bestandswahrung, sondern die Entwicklung einer längerfristigen Perspektive, in der man die eigene Herkunft nicht im Taumel von der einen in die andere, in die angeblich bessere Zukunft hinein vergisst. Der Umgang mit Friedhöfen, der Umgang mit den Alten, der Umgang auch mit der Tradition ist ein elementares Beispiel dieser Zukunftswahrung durch Traditionspflege. Es ist nicht so, dass wir solche Nachhaltigkeiten nicht schon hätten. Es gibt starke Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Denkmäler nicht verfallen zu lassen. Das ist mehr als bloßer Konservativismus, weil sich aus Traditionen auch Zukunftschancen ergeben. Wenn wir die zukunftsfähigen Traditionen pflegen, sind wir auch eher in die Lage, die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen.

Ein Beispiel für drohenden Traditionsverlust ist für mich die deutsche Universität. Wir leben in einer wissenschaftspolitischen Umbruchsituation, und ein in die Jahre gekommener Hochschullehrer wie ich hat das Gefühl, dass diejenigen, die hochschulpolitisch die neuen Strukturen setzen, kaum mehr ein Bewusstsein davon haben, in welcher großen Tradition die deutsche Universität steht. Ich will nicht bestreiten, dass diese Universität geändert werden muss und dass dabei auch neue ökonomische Gesichtspunkte, also auch Aspekte von Konkurrenz, die ja bekanntlich das Geschäft belebt, berücksichtigt werden sollten. Aber wenn in diesem Prozess das, wofür die deutsche Universität seit der humboldtschen Gründung gestanden hat, aufgegeben wird, dann schießen wir uns selber ins Bein. Ich meine damit etwas sehr Elementares, eine Kultur der geistigen Autonomie. Sie ist in den gegenwärtigen Entwicklungen gefährdet, insofern diese Entwicklungen durch ein Dominantwerden der Wirtschaft über die Wissenschaft bestimmt wird. Was von der großen Tradition der deutschen Universität, für die der Name Wilhelm von Humboldt steht, ist zukunftsfähig? Darüber ist viel diskutiert worden, aber jetzt, wo es um konkrete Formen und Prozesse des Umbaus geht, lässt man sich im Wesentlichen von ökonomischen Kriterien leiten und weniger von den Kriterien, die die Eigenart universitärer Forschung und Lehre und mit ihr auch den Bildungsauftrag der Universität betreffen.

 

Was bedeutet das übertragen auf die Situation im Ruhrgebiet und in Essen?

Das Ruhrgebiet ist eine Wissenschaftslandschaft. Man kann die Idee der Nachhaltigkeit in der Wissenschaftskultur auf die Wissenschaftslandschaft des Ruhrgebiets anwenden. Ausgehend von einem solchen allgemeinen Prinzip kann man dann ganz konkret überlegen, welche Zukunftschancen die Wissenschaftsregion Ruhrgebiet im Blick auf große Traditionen des deutschen Wissenschaftslebens hat. Nur diejenigen werden die Zukunft für sich haben, die in der gegenwärtigen Staatskrise, die auf einem strukturellen Mangel öffentlicher Finanzen beruht, nicht den Status Quo retten wollen und über die Verluste jammern, sondern sich überlegen, wie man aus Sparzwängen Innovationschancen ableiten kann. Die Ruhrgebietsuniversitäten haben solche Chancen erkannt und sind dabei, sich entsprechend zukunftsfähig zu formieren. Ich rede ungern pro domo, aber die neue Verortung des Kulturwissenschaftlichen Instituts als ein an der Universität Essen-Duisburg angesiedeltes Exzellenzzentrum der Kulturwissenschaften, das gleichberechtigt mit allen drei Ruhrgebietsuniversitäten zusammenarbeitet, ist ein gutes Beispiel dafür.

 

Welche Fähigkeiten sind in solch einer Umbruchsituation notwendig, um den Wandel erfolgreich zu bewältigen?

Wir haben im Bereich der Kultur dafür ein traditionsreiches Wort: Bildung. Bildung ist die Fähigkeit, die man braucht, um aus verarbeiteter historischer Erfahrung Zukunftschancen abzuleiten, und das nicht nur im Blick auf einzelne konkrete Probleme, sondern auf die Gesamtsituation, in der gehandelt werden muß. Bildung ist immer etwas Umfassendes. Es geht in ihr letztlich um Sinn. Bildung ist Sinnkompetenz. Sinnkompetenz besteht darin, Herausforderungen einer Krise produktiv aufzugreifen und in Innovation umzusetzen. Dazu gehört der Charakter einer Persönlichkeit, ihre Autonomie, ihre Fähigkeit, Distanz zu gegebenen Lebensverhältnissen einzunehmen, Risikobereitschaft, aber auch Sensibilität im Bereich der Erfahrung. Letzteres ist der Grund dafür, warum die Kunst in der Bildung eine große Rolle spielt. Die Kunst ist der Ort in der Kultur, wo die Menschen wahrnehmungsfähig werden. Nachhaltigkeit meint im Bereich der Kultur nicht Traditionalismus im Sinne des Festhaltens am Bewährten, sondern eine auf Dauer gestellte Dynamik im Bewusstsein einer sinnbestimmten Richtung, die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft umgreift. Das ist natürlich sehr abstrakt formuliert. Es lassen sich aber jeweils konkrete Inhalte namhaft machen. Ich nenne als Beispiel die deutsche Wirtschaft. Werner Abelshauser hat in einer Vorlesung am kulturwissenschaftlichen Institut gezeigt, dass die deutsche Wirtschaft über hundert Jahre lang eine besondere Form des Wirtschaftssystem ausgebildet hat. Heute steht die deutsche Wirtschaft vor der Entscheidung, ob sie diese Tradition fortführen, oder ob Sie auf den amerikanischen Weg umschwenken will. Die amerikanische Wirtschaft – und das hat der Jahrhundertvergleich von Abelshauser sehr schön gezeigt, hat eine andere Struktur, eine andere 'Wirtschaftskultur'. Abelshauser spricht sich eher gegen das Umschwenken aus und plädiert dafür, die deutsche, oder in verallgemeinerter Form: europäische Wirtschaftskultur nicht einfach fortzuschreiben, sondern kritisch zu reflektieren und neu zukunftsfähig zu machen.

 

Was bedeutet das für das praktische Handeln? Wie werden wir als Gesellschaft – nachhaltig – zukunftsfähig? Gib es da nicht schon zahlreiche Ansätze?

Es gibt überall schon Ansätze dessen, was ich im Sinn habe. Sonst könnte ich ja auch nicht so reden. Ich sehe es zum Beispiel bei den jüngeren Kollegen hier im Kulturwissenschaftlichen Institut, daß und wie sie neue Fragen stellen, neue kulturelle Erkenntnisprozesse anregen und sich dabei weit über die Fachgrenzen hinaus bewegen. Wir haben zum Beispiel in das Kulturwissenschaftliche Institut eine Gruppe von Entscheidungsträgern der Wirtschaft eingeladen (ich schätze, daß an diesem Abend ungefähr 5 Milliarden Umsatz im KWI versammelt waren). Wir Kulturwissenschaftler haben geschwiegen und den Wirtschaftsleuten zugehört, als sie uns dargelegt haben, wie sie mit dem Thema Kultur umgehen und von uns erwarten. Solche neuen Denkansätze und überfachlichen Zusammenhänge sind noch vergleichsweise schwach gegenüber der starken Dominanz der Beharrungskräfte, die das Bewährte und Bequeme behalten wollen. Ich sehe das Hauptproblem der Bundesrepublik Deutschland darin, dass sie über Jahrzehnte überaus erfolgreich war in der Etablierung sozialer Sicherheitsnetze. Wir haben uns auf diesen Erfolg wie auf ein breites, sanftes Kissen gesetzt und uns wohl gefühlt. Aber da eben die Rahmenbedingungen für diesen Erfolg nicht mehr gegeben sind, müssen wir das Ereichte auf neue Weise in die Zukunft hinein fortsetzen. Das erfordert ein Umdenken und entsprechende Impulse auch der wissenschaftlichen Forschung. Ich greife noch einmal das Beispiel der Hochschulen auf, um den Gesichtspunkt der Zukunftsfähigkeit von Traditionen zu beleuchten. In den Universitäten werden jetzt die meisten Studiengänge neu gestaltet. Dabei gibt es Versuche, auf neue Weise den Bildungsaspekt zum Zuge kommen zu lassen. So hat zum Beispiel die Universität Duisburg-Essen ein 'Studium Liberale' geschaffen. In Witten-Herdecke gibt es das Studium fundamentale, das außerordentlich hohe Ansprüche an die Bildung der Studierenden stellt. Diese Beispiele sind aber Ausnahmen, und stehen nicht für die Regel. Daß wir für unsere Zukunft nicht bloß gute Fachleute brauchen, sondern gebildete Experten, wird jeder begrüßen. Aber praktisch geschieht dafür viel zu wenig. Der Alltag des Studiums an den Universitäten ist grau und deprimierend. Wie können die Professoren in den Massenfächern in ihren Studenten noch lernende Individuen wahrnehmen?

Dennoch gibt es Ansätze, die große Tradition eines kritisch reflektierenden, nachdenklichen Bildungskonzeptes fortzusetzen. Ich erwähne als Beispiel nur das Programm für Schlüsselqualifikationen, das die Stiftung Mercator gemeinsam mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ausgeschrieben hat.

 

Essen wird 2010 Kulturhauptstadt Europas. Wird das nachhaltig auf die Stadt und das Ruhrgebiet wirken?

Ich möchte die Frage auf einem Umweg beantworten. Was ist das Gegenteil kultureller Nachhaltigkeit? Meine Antwort lautet klipp und klar: die Event-Kultur. Sie ist für den Augenblick gemacht, wirkt kurzzeitig stark, und danach ist nichts mehr. Solche Event-Kultur können Sie bei sehr erfolgreichen Ausstellungen wie etwa bei unserem Nachbarn, dem Folkwang-Museum, beobachten. Hier stehen die Leute bei den großen Ausstellungen Schlange bis auf die Straße. Wenn ich an dieser Schlange vorbeigehe, frage ich mich, wie viele der hier Wartenden gehen regelmäßig in die Kunstmuseen, wo die Bilder hängen, die zu einer Großausstellung neu zusammengestellt werden? Die Tendenz zur Event-Kultur ist außerordentlich gefährlich. Hier liegt auch die Gefahr für die Kulturhauptstadt Europas. Die zahlreichen Aktivitäten, die mit dieser Auszeichnung verbunden sind, können sich natürlich der Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht entziehen, die der Event-Kultur zugrunde liegt. Sie sollte sich aber dieser Ökonomie listig bedienen, indem sie in der Form der Events nachhaltige Kultur präsentiert, die über den Augenblick hinaus ihre Dauer und Zukunftsfähigkeit hat. Essen und das Ruhrgebiet könnte das ganze Jahr 2010 zu einem Großevent machen, und danach wären wir wieder das, was wir vorher waren. Das ist natürlich der falsche Weg.

Nachhaltiger würden wir die Chancen der Kulturhauptstadt nutzen, wenn wir ernsthaft daran arbeiteten, den europäischen Charakter des Ruhrgebiets, der den Menschen hier im Revier vielleicht gar nicht so bewusst ist, stärker hervortreten zu lassen und im Bewußtsein der Menschen zu verankern. Wir sollten über die Aktivitäten der Kulturhauptstadt einen nachhaltigen Schub der Europäisierung im Revier in Gang setzen. Dann wäre das Revier nicht nur, wie es so schön heißt, ein starkes Stück Deutschland, sondern auch ein starkes Stück Europa.

 

Wie soll das konkret aussehen?

Die Ruhrgebietsbevölkerung ist das Ergebnis eines dramatischen Zustroms unterschiedlicher Menschen aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands, Europas und aus noch weiter entfernten Ländern. In der relativ kurzen Geschichte des Ruhrgebiets haben diese Menschen zu einer Art Einheit zusammengefunden, ein Wir-Gefühl entwickelt. Daran muß angeknüpft werden, und zwar so, daß die neue Vielfalt im Revier durch die jüngsten Immigrationsschübe im Lichte dieser Tradition erscheinen und damit auch Chancen einer gelingenden Integration deutlich werden.

Die Zukunft Europas steht und fällt mit unserer Fähigkeit, die europäische Einheit kulturell in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Damit haben wir allerdings erst angefangen. Die kulturelle Einheit Europas lässt sich nicht von einer Zentrale aus planen und verordnen, sondern muß von unten wachsen, und zwar im Wesentlichen aus den Städten. Der Slogan dafür lautet: "Europa eine Seele geben". Das ist das Gebot der Stunde, und die Seele, das ist die Kultur. Das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas muß diese Seele aktivieren und sichtbar machen. In der Kulturhauptstadtbewegung ist das Revier, vertreten durch zwei Städte, Essen und Bochum, gemeinsam aufgetreten. Es hat sich damit zum ersten Mal der europäischen, wenn nicht der Weltöffentlichkeit als eine Einheit präsentiert. Hier geht es um eine neue politische Kultur der Nachhaltigkeit: Das Ruhrgebiet kann eine große kulturelle und politische Innovation schaffen, eine Einheit, in der sich die Vielfalt der Städte und Kommunen nicht in einem Alptraum von einer Megalopolis aufhebt, sondern ein wachsendes Gebilde, in der die verschiedenen Städte ihre Individualität gerade nicht verlieren, sondern auf neue Weise in einem neuen Miteinander zur Geltung bringen.

Ein letztes Wort zur Nachhaltigkeit: Die Kulturhauptstadt, die Kulturhauptstadtbewegung, ist eigentlich zum ersten Mal ein öffentlich wirksamer Vorgang, indem das Revier als solches, vertreten durch zwei Städte, Essen und Bochum, auftritt. Das Revier hat natürlich den Kommunalverband, den Regionalverband und andere Institutionen. Aber in dieser Form sich sozusagen der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, das ist neu. Es ist ein erster Schritt, indem zwei Städte gemeinsam für das Revier sprechen. Da wäre eine neue Kultur der Nachhaltigkeit, wenn das Ruhrgebiet eine große kulturelle und politische Innovation schafft. Nicht eine gigantische Stadt, ein Albtraum von einer Megalopolis, sondern ein wachsendes Gebilde, in der die verschiedenen Städte ihre Individualität gerade eben nicht verlieren, sondern auf neue Weise in einem neuen Miteinander zur Geltung bringen. Das wäre so etwas wie ein Modell Europa auf der kommunalpolitischen Ebene. Im Grunde ist das ganz einfach. Die Eifersüchteleien der Oberbürgermeister kann man mit einem Schlag beseitigen, indem man sagt, jedes Jahr wird ein anderer der Repräsentant des Ganzen. Bei der großen Zahl der infrage kommenden Personen ließen sich auch andere Modelle denken.

Das Ruhrgebiet könnte also eine innovationsfähige politische Kultur auf regionaler und städtischer Ebene entwickeln. Geschieht dies, und die Bewerbung und ihr Erfolg sind ja ein entscheidender Schritt in diese Richtung, dann wäre das etwas genuin Europäisches. Die Kirchturmsgegensätze im Ruhrgebiet würden zu Gunsten einer neuen Struktur überwunden, in der sich das Ganze im jeweils Einzelnen spiegelt und umgekehrt das Einzelne sich in das Ganze einbringt. Das ist wieder eine allgemeine Formulierung, aber sie lässt sich in konkrete Politik umsetzen. Max Weber hat einmal gesagt, Politik sei das hartnäckige Bohren dicker Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft. Die Leidenschaft dieser Politik, das ist das Element der Kultur in ihr. Diese Kultur braucht das Revier, und die Kulturhauptstadtbewerbung ist ein Stück ihrer Verwirklichung.